Nein, wegen vertraulicher Erstattungsbeträge – gerne überspitzt als „Geheimpreise“ verkürzt – werden die Beiträge der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) nicht steigen. Sie werden steigen, weil über viele Jahre Strukturreformen verschleppt wurden. Sie werden steigen, weil die GKV seit Jahren als sozialer Verschiebebahnhof missbraucht wird. Sie werden auch deshalb steigen, weil auf der einen Seite zwar grundlegende Projekte wie die Krankenhausreform angeschoben werden, aber auf der anderen Seite irgendwie niemandem in den Sinn gekommen ist, dass das Geld kosten könnte. Auch in diesem Fall ist nun die Idee, dass die gesetzlich Versicherten mit ihren Beiträgen eine neue Krankenhauslandschaft finanzieren sollen. Sollte es so kommen, würde auch das zu steigenden Versichertenbeiträgen führen. Das wäre – nur am Rande – ein Systembruch und wahrscheinlich sogar verfassungswidrig.
„Geheimpreise“: Abenteuerliche Zahlen kursieren
Überhaupt passt das Aufregungslevel in Bezug auf die Vertraulichkeit von Arzneimittelpreisen nur wenig zur Bedeutung des Themas. Abenteuerlich sind auch die Zahlen, die kursieren. Die GKV behauptet, dass durch die Vertraulichkeit in der nächsten Dekade von der Solidargemeinschaft bis zu 8 Milliarden Euro zusätzlich aufzubringen seien. Wie das berechnet wurde, weiß niemand (warum das so sein soll, eigentlich auch nicht). Wäre nicht die gleiche journalistische Skepsis, die oftmals Pharmaunternehmen entgegenschlägt, auch bei den Kassen angebracht? Es wäre kein Präzedenzfall, dass sie mögliche „Ausgabenexplosionen“ aus Gründen des politischen Marketings aufblasen. Im Jahr 2014 rechnete die AOK aufgrund der neuen antiviralen Medikamente zur Behandlung von Hepatitis C mit Jahresausgaben von 5 Milliarden Euro. Ein Horrorszenario – allerdings völlig ohne Fundament. Eingetreten ist es nicht.
Tatsache ist: Die Vertraulichkeit bei Arzneimittelpreisen ist fast überall in Europa die Regel und durch das Medizinforschungsgesetz (MFG) nun auch nach Deutschland gekommen. Offenbar schließen daraus einige, dass vertrauliche Preise im verrauchten Hinterzimmer verabredet werden, um andere zu schröpfen. Die Idee ist eigentlich eine andere: Vertraulich verhandelte Preise machen es möglich, dass dem Verhandlungspartner größere Preisnachlässe gewährt werden, ohne dass dies dafür sorgt, dass ein Arzneimittel weltweit in eine negative Preisspirale gerät. Damit erhöht sich für den pharmazeutischen Unternehmer der Spielraum, von dem in einer solchen Konstellation die GKV profitieren könnte. Das offenbar Undenkbare könnte dann Realität werden: Dass die GKV von diesem Instrument finanziell profitiert.
Option auf Vertraulichkeit: Kein Wünsch-Dir-was
Dass ein Pharmaunternehmen die Option auf Vertraulichkeit zieht, hängt an verschiedenen Bedingungen – und ist alles andere als ein Wünsch-Dir-was. Denn es muss einen „Vertraulichkeitsrabatt“ von 9 Prozent abführen – zusätzlich zum verhandelten AMNOG-Erstattungsbetrag. Außerdem muss es den Kassen zu viel gezahlte Vertriebsmargen der Apotheken und Pharmagroßhändler erstatten. Da kommt nochmals eine Belastung von 3 bis 6 Prozent des Herstellerpreises hinzu. In der Summe kostet die Vertraulichkeit den Hersteller zwischen 12 bis 15 Prozent seines Erlöses. Außerdem muss er in Deutschland eine Forschungsabteilung betreiben und zusätzlich relevante eigene Projekte und Kooperationen mit öffentlichen Einrichtungen in präklinischer oder klinischer Arzneimittelforschung nachweisen – alles Details, die in der Berichterstattung nicht vorkommen.
Die schlechten Nachrichten über den Zustand unserer Sozialsysteme häufen sich. Vergangene Woche die Schlagzeile von der drohenden Insolvenz der Pflegeversicherung. Dass unser Rentensystem zukunftsfest ist, behaupten nur Träumer. Und auch die GKV hangelt sich von Budget-Krater zu Budget-Krater. Dass Deutschland nicht die Kraft aufbringt, diese zentralen Säulen des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu reformieren – das ist der eigentliche Skandal.
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Die GKV als „Notgroschen fürs Regierungsportemonnaie“?
Offenbar ist so ein Topf voller Geld verlockend: Rund 280 Milliarden Euro kommen im Jahr durch die Beiträge der Krankenversicherten zusammen, weitere 20 Milliarden Euro durch Zusatzbeiträge. Reichen tut das nicht – milliardenschwere Finanzlöcher sind so sicher wie das Amen in der Kirche. Die gesetzlichen Krankenkassen sind sauer, weil die Politik sie zunehmend mit gesamtgesellschaftlichen Aufgaben betraut, die eigentlich aus Steuern bezahlt werden müssten.
Medizinforschungsgesetz: Ein Meilenstein mit Schwächen
Der Bundestag hat das Medizinforschungsgesetz (MFG) verabschiedet – es ist aus Sicht der Industrie eine der zentralen Säulen für die Umsetzung der Nationalen Pharmastrategie. Damit soll Deutschland als Standort für medizinische Forschung international wieder wettbewerbsfähig werden. Es ist auch ein Versuch, zumindest einen Teil der im GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) erlassenen, innovationsfeindlichen Regelungen bei der Bewertung neuer Arzneimittel zu heilen. Die vertraulichen Erstattungspreise für innovative Arzneimittel sind praktisch vom Tisch.
Damit Arzneimittelinnovationen den Menschen auch in Zukunft zur Verfügung stehen
Den Pharmastandort wieder attraktiver machen: Dieses Ziel haben sich die Ampel-Parteien gesetzt. Aus Sicht von Dr. Andreas Eitel, Director Market Access DACH bei der Ipsen Pharma GmbH, ist es „dringend geboten, dass die Bundesregierung Reformen angeht“. Denn Deutschland büßt im internationalen Vergleich zunehmend an Innovationsstärke ein – zulasten von Wissenschaft, Wirtschaft und Patient:innen. Das liegt mitunter am GKV-Finanzstabilisierungsgesetz: Warum Ipsen Verfassungsbeschwerde eingereicht hat, erklärt der Experte im Interview.