Wie geht es weiter mit dem Wirtschafts- und Forschungsstandort? Welche Weichen müssen in der Gesundheitspolitik gestellt werden? Der vfa hat mit Expert:innen aus Politik und Wirtschaft diskutiert, was die neue Bundesregierung alles anpacken sollte. Foto: ©iStock.com/Volha Rahalskaya
Wie geht es weiter mit dem Wirtschafts- und Forschungsstandort? Welche Weichen müssen in der Gesundheitspolitik gestellt werden? Der vfa hat mit Expert:innen aus Politik und Wirtschaft diskutiert, was die neue Bundesregierung alles anpacken sollte. Foto: ©iStock.com/Volha Rahalskaya

Pharma als Schlüsselindustrie

Wie geht es weiter mit dem Wirtschafts- und Forschungsstandort Deutschland? Welche Weichen müssen in der kommenden Legislaturperiode in der Gesundheitspolitik gestellt werden? Der Pharmaverband vfa hat in seinem Online-Format „Stark am Standort“ mit Expert:innen aus Politik und Wirtschaft diskutiert, was die neue Bundesregierung alles anpacken sollte.

Vielleicht war das eine der wichtigsten Zahlen, die aus einer Umfrage des vfa stammt: Fast 80 Prozent der Befragten sind mit der Debattenkultur in der deutschen Politik unzufrieden; über 70 Prozent wünschen sich mehr Orientierung an der Sache und weniger parteipolitische Wortschlachten. Angesichts der Tatsache, dass das Land im Wahlkampf ist, ist das wohl ein frommer Wunsch. Aber vielleicht könnte das politische Berlin diese Zahlen auch als einen Denkzettel verstehen: Vom Umgang der Politik untereinander haben die Menschen im Land offensichtlich den Kanal voll. Um Herbert Grönemeyer zu zitieren: Es ist Zeit, dass sich was dreht.

Deutsches Gesundheitswesen: Hochgradig ineffizient

Dr. Paula Piechotta, Bündnis 90/Die Grünen
Dr. Paula Piechotta, Bündnis 90/Die Grünen. Foto: Ferdinand Uhl

Noch eine Zahl, die 17. „Das ist meine Lieblingszahl“, so Matthias Mieves, SPD-Bundestagsabgeordneter und Mitglied im Gesundheitsausschuss. „17mal gehen wir in Deutschland im Durchschnitt zum Arzt oder zur Ärztin – pro Jahr.“ Das ist international spitze – allerdings mit mäßigem Outcome. „Wir haben das zweitteuerste Gesundheitssystem in Europa“, ergänzte Dr. Paula Piechotta, die für Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag sitzt, „das aber eine Lebenserwartung generiert, die im unteren Mittelfeld liegt.“ Was die beiden sagen wollen: Das deutsche System ist hochgradig ineffizient. Zuviel Bürokratie, zu wenig Digitalisierung – allein die beiden Hauptverdächtigen zogen sich wie ein roter Faden durch die Diskussion. Zwar sei von der amtierenden Regierung vieles angestoßen worden – Stichworte hier: die Digitalisierungsgesetze und das Medizinforschungsgesetz – aber nun müsse auch umgesetzt werden.

Damit gemeint sind auch strukturelle Reformen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Tino Sorge, seit vielen Jahren Gesundheitspolitiker der CDU, erinnerte daran, dass die versicherungsfremden Leistungen die Kassen mit hohen Milliardensummen belasten und unter anderem dazu führen, dass die Versicherungsbeiträge mittlerweile nicht gekannte Höhen erreicht haben. Das mit den versicherungsfremden Leistungen ist allerdings schon fast ein Dauerbrenner: Mindestens zweimal war das bereits in Koalitionsverträgen niedergeschrieben worden – und am Ende doch nicht umgesetzt.

Gesundheitspolitik ist Wirtschaftspolitik

Aber der Unionsmann will noch mehr: Er will den Gesundheitsstandort stärken und dafür sorgen, „dass es gerade für Pharmaunternehmen attraktiv ist, in Deutschland Innovationen an den Markt zu bringen und zu forschen.“ Bei Dr. Daniel Steiners, Vorstand der Roche Pharma, rennt Sorge offene Türen ein: „Gesundheitspolitik ist Industriepolitik, ist auch Wirtschaftspolitik. Wir müssen das Ganze holistisch sehen.“ Die industrielle Gesundheitswirtschaft sei jetzt schon eine Schlüsselindustrie; „sie wächst auch stärker als viele andere Industriezweige.“ Deshalb müsse man im Gespräch bleiben, allein schon, um verlässliche Rahmenbedingungen zu schaffen und zu erhalten: „Es gibt für Unternehmen nichts Schlimmeres, als wenn willkürlich Dinge verändert werden.“ Damit dürfte sich Steiners auf das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz beziehen, das in der Pharmaindustrie das Etikett „hochgradig innovationsfeindlich“ trägt, weil es Arzneimittelinnovationen mit hohen Preisabschlägen belegt hat – und in der Folge auch dazu geführt hat, dass z.T. neue Arzneimittel mit europäischer Zulassung in Deutschland nicht erhältlich sind.

vfa-Präsident Han Steutel. Foto: ©vfa / B. Brundert
vfa-Präsident Han Steutel. Foto: ©vfa / B. Brundert

Dass es anders geht, zeigt die Nationale Pharmastrategie, die im Dialog zwischen Pharmaunternehmen und verschiedenen Bundesministerien unter Leitung des Bundeskanzleramtes Ende 2023 auf den Weg gebracht wurde. „Die Pharmastrategie ist ein gutes Beispiel, wie es gehen kann“, so der Chef des Bundeskanzleramts Wolfgang Schmidt im Gespräch mit vfa-Präsident Han Steutel. „Dass man sich gemeinsam mit den Unternehmen hinsetzt, gemeinsam Probleme identifiziert und Lösungen erarbeitet und diese dann auch umsetzt.“ Beide sind sich einig: Die Stimmung in der deutschen Wirtschaft ist nicht gut. Doch Pharma setzt hier einen Kontrapunkt: „Wir reden in der Pharmaindustrie von einer Aufbruchstimmung“, so Steutel. Mehrere Milliarden Euro schwere Investitionen in Produktionsanlagen hatte die Branche im vergangenen Jahr bekannt gegeben. „Wir haben das Vertrauen in Deutschland als Markt noch nicht verloren.“ Nun hofft er auf Kontinuität – es ist seine Botschaft an die neue Regierung.

Pharmaindustrie: Ein ökonomisches Schwergewicht

Denn zu bieten hat die forschende Pharmaindustrie einiges; sie ist ein ökonomisches Schwergewicht mit einer besonders hohen Wertschöpfungstiefe, die tagtäglich mit ihren Produkten für die Gesundheit von vielen Millionen Menschen sorgt. Allein im vergangenen Jahr kamen 43 Medikamente auf Basis neu entwickelter Wirkstoffe auf den Markt. Damit erweiterten sich die Behandlungsmöglichkeiten vor allem in den Indikationen Krebs und Immunologie, aber auch für Menschen mit seltenen Erkrankungen entscheidend. Außerdem gilt die Branche als „krisenresilient“, weil weniger abhängig von konjunkturellen Talfahrten. Und schließlich gilt sie als ein Hoffnungsträger für den Strukturwandel der deutschen Wirtschaft, weil sie als innovative Branche schon heute eine Schlüsselindustrie ist, die hochwertige Arbeitsplätze und Wohlstand schafft. 150.000 Menschen arbeiten hier, und die Branche stellt – gegen den Trend – ein. Die nächste Bundesregierung müsse diesen Wandel aktiv unterstützen, denn das sorge für weiteres Wachstum und für Impulse in andere Sektoren – und damit für einen Modernisierungsschub.

Chef des Bundeskanzleramts Wolfgang Schmidt
Chef des Bundeskanzleramts Wolfgang Schmidt. Foto: Bundesregierung/Steffen Kugler

Die Weichen dafür sind gestellt. Aber nun müsse auch umgesetzt werden: „Wir brauchen ein AMNOG auf der Höhe der Zeit“, meinte Dr. Georg Kippels, Gesundheitspolitiker der CDU – gemeint ist das Nutzenbewertungsverfahren, das seit 2011 in einem aufwändigen Prozess den Nutzen einer Innovation gegenüber bereits bestehenden Therapien festzulegen versucht, was dann Grundlage für die Erstattung durch die GKV ist. Denn schließlich sei es zu einer Zeit entwickelt worden, wo neue Ansätze wie Gentherapien noch keine große Rolle gespielt hätten – und sich das System deshalb in einer alten Methodik gefangen sieht. Und auch bei der Digitalisierung muss nun Tempo gemacht werden. „Wir müssen Digitalisierung und Künstliche Intelligenz gestalten und nicht nur erleiden“, sagte Klaus Holetschek, CSU-Fraktionsvorsitzender und Ex-Gesundheitsminister Bayerns. „Der Datenschutz darf die Nutzung der Daten nicht dominieren, weil wir damit in der Versorgung kranker Menschen Quantensprünge machen.“ Die Pharmabranche geht davon aus, dass sie durch den Zugriff auf anonymisierte und pseudoanonymisierte Daten die Forschung und Entwicklung neuer Therapien deutlich beschleunigen kann. Heidrun Irschik-Hadjieff, Vorsitzende der Geschäftsführung von Sanofi in Deutschland, konstatiert dem Land einen „massiven Aufholbedarf“ in Bezug auf Digitalisierungsgrad und den Zugang zu Gesundheitsdaten. Politische Initiativen wie das Gesundheitsdatennutzungsgesetz sieht sie als „ersten, wichtigen Schritt“; weit genug geht das „aber gerade im Bereich Forschung“ nicht.

Gesucht: Eine „Fachkräfteinitiative Pharma“

Und noch ein Thema beschäftigt die Branche: Bis zu 100.000 Fachkräfte könnten in den kommenden zehn Jahren auch hier fehlen und damit weiteres Wachstum einbremsen. An die neue Bundesregierung geht deshalb die Forderung nach einer „Fachkräfteinitiative Pharma“. Die Industrie lässt sich einiges einfallen; bei Boehringer Ingelheim setzen sie zum Beispiel verstärkt auf duale Ausbildungen, wie Geschäftsführer Dr. Fridtjof Traulsen erzählt. Er wünscht sich gerade beim Thema Weiterbildung und der Erleichterung von Quereinstiegen mehr Unterstützung von der Politik.

Gastgeber Han Steutel zeigte sich zufrieden mit dem Verlauf der Veranstaltung. Alle demokratischen Parteien waren beim vfa-Event dabei und davon überzeugt, „dass wir als Pharmaindustrie gebraucht werden, um den Wirtschaftskarren aus dem Dreck zu ziehen.“ Rückenwind holte sich der vfa-Chef auch vom Pharmaverband BPI. Sein Hauptgeschäftsführer Dr. Kai Joachimsen warb für langfristige Planungssicherheit und Verlässlichkeit. Außerdem brauche es „faire und investitionsfreudige Rahmenbedingungen für Forschung, Entwicklung, Produktion und Erstattung.“

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