Dafür muss man nicht studieren: Wer innovative Produkte entwickeln will, muss erstmal Geld in die Hand nehmen. Investitionen sind der Humus, auf dem Fortschritt gedeiht. Für die forschenden Pharmaunternehmen gilt das in einem besonderen Maße: Die Entwicklung einer neuen Therapie ist langwierig (12 bis 15 Jahre), sie ist teuer (über 1 Milliarde Euro), sie ist voller Risiken: Von 100 therapeutischen Konzepten schaffen es 20 in die präklinische Entwicklung, schaffen es 10 in die klinischen Studien, wird am Ende 1 Zulassung daraus. Die Erfolgsaussicht: 1 Prozent. Soweit die Pharma-Realität.
Das Geld, um Fortschritt zu finanzieren, muss irgendwo herkommen. „Die Gewinne sind das, was wir brauchen, um sie wieder in Forschung zu reinvestieren“, sagt Dr. Fridtjof Traulsen, der bei Boehringer Ingelheim den Biotechnologie-Standort Biberach leitet. „Wenn wir, wie im vergangenen Jahr, ein gutes Jahr haben, dann freut uns das sehr, denn es bedeutet, dass mehr in Forschung und Entwicklung nach Deutschland zurückfließt – und damit mehr in Zukunft.“
Arzneimittel: Weniger Leid, weniger Krankenhaus, weniger Todesfälle
Wirtschaftlich erfolgreiche, forschende Pharmaunternehmen als Treiber eines zukunftsfähigen Wirtschaftsstandorts Deutschland – das ist die eine Seite der Betrachtung. Die andere Seite des Erfolges zeigt sich dort, wo kranke Menschen auf Arzneimittel angewiesen sind: „1,7 Millionen Patientinnen und Patienten haben wir im vergangenen Jahr mit unseren Arzneimitteln versorgt“, erklärt Dr. Traulsen. Rund 800.000 Menschen mit Diabetes und Herzinsuffizienz, 640.000 mit schweren Atemwegserkrankungen, 220.000, die unter Herz-Kreislauf-Erkrankungen leiden: „Das bedeutet in jedem einzelnen Fall, dass Leid erspart wird. Menschen kommen nicht ins Krankenhaus und es werden Todesfälle vermieden.“ Das ist die humane Seite der Wertschöpfung. „Dafür geht man gerne zur Arbeit“, sagt der Standortleiter.
Das Pharmaunternehmen aus dem rheinland-pfälzischen Ingelheim investiert knapp die Hälfte ihrer globalen Investitionen auf deutschem Boden, berichtet Landesleiterin Dr. Sabine Nikolaus. 2022 waren es 490 Millionen Euro. So entsteht gerade ein Biomasse-Kraftwerk, das zusammen mit einem Photovoltaik-Park bis Ende des Jahres den gesamten Standort ausschließlich mit regenerativen Energien versorgen wird. Auch eine Smart-Factory wird aus dem Boden gestampft. Sie ist weitgehend digitalisiert: „Hier produzieren wir alle neuen Arzneimittel unserer Pipeline für den weltweiten Markt“, so Dr. Nikolaus. Rund 2,4 Milliarden Euro sind allein in Deutschland in Forschung und Entwicklung geflossen, damit neue Therapien entstehen – und damit rund die Hälfte der weltweiten Ausgaben.
Gute Rahmenbedingungen für Investitionen in F&E
Doch für eine solche Erfolgsgeschichte brauche es auch in Zukunft die richtigen Rahmenbedingungen. Landesleiterin Nikolaus: „Wir brauchen sie, damit sich Deutschland nicht in einen Wettbewerbsnachteil hineinmanövriert.“ Dazu gehört für sie:
- ein robuster Patentschutz, denn „das ist das, was uns hilft, Innovationen zu finanzieren.“
- eine am medizinischen Fortschritt orientierte Nutzung anonymisierter Gesundheitsdaten: „Da hat Deutschland, freundlich formuliert, Nachholbedarf.“
- Anreiz für Innovationen: „Da ist das GKV-FinStG ein klarer Hemmschuh, denn es besagt: Kleinere Innovationen werden nicht mehr belohnt. Es stabilisiert gar nichts, es stopft ein Haushaltsloch.“
- der Abbau von Bürokratie, die klinische Studien massiv verzögert: „Die Zeit, die Patient:innen heute auf Arzneimittel warten, ist einfach viel zu lang.“
Ein weiterer Punkt: Eine kohärente Politik. Und das ist nach Ansicht der beiden Manager:innen eine, die beim Thema Gesundheit nicht nur an Gesundheit denkt. Aus Sicht von Sabine Nikolaus macht es wenig Sinn, dass das Bundeswirtschaftsministerium erkennt, dass die pharmazeutische Industrie eine Schlüsselindustrie ist, das Bundesgesundheitsministerium aber ein Gesetz macht, „das ganz klar innovationsfeindlich ist. Deshalb müssen Gesundheits- und Wirtschaftspolitik zusammen in die gleiche Richtung gehen.“
Pharmaindustrie = Schlüsselindustrie
Beispiele dafür gibt es im Lande, wie die „Biotechnologie-Initiative Rheinland-Pfalz“ mit dem Ziel, das Bundesland „zu einem der weltweit führenden Biotechnologiestandorte auszubauen.“ Und auch in Baden-Württemberg wird Gesundheit ganzheitlich gedacht (s. „Gesundheit in Deutschland: Falsch organisiert“). Die Gesundheitswirtschaft hat man dort als wichtige Schlüsselindustrie für Wachstum und für die Sicherung von Arbeitsplätzen identifiziert. Der Bund könnte sich dort etwas abgucken.
Vielleicht sollten die Minister Habeck und Lauterbach mal zusammen Essen gehen. Denn immerhin geht es um eine Industrie, die darüber mitentscheiden kann, wie Deutschland in Zukunft seine wirtschaftliche Zukunft und seinen Wohlstand organisiert. Gesundheit, die nur als Kostenfaktor betrachtet wird, hat mit dem Potenzial, was wirklich in ihr steckt, wenig bis gar nichts zu tun.
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