Deutschlands Wirtschaftsmotor stottert – wie soll man das sonst bezeichnen, wenn eine Ikone der Industrie wie der Volkswagen-Konzern nach 30 Jahren Beschäftigungsgarantien aufkündigt und laut über Werksschließungen nachdenkt? Gleichzeitig entsteht viel Neues: Forschende Pharmaunternehmen investieren Milliardensummen in neue Forschungs- und Produktionsstätten. Und zeigen: Der Standort Deutschland ist offenbar besser als wir in der Regel über ihn reden. Oder wie soll man das bezeichnen, wenn eine global tätige Industrie, die wie kaum eine andere auf Innovation geeicht ist, trotz aller internationaler Konkurrenz in der Bundesrepublik ein milliardenschweres Statement nach dem anderen setzt?
Entsprechend ist das Selbstbewusstsein. Stefan Oelrich, Mitglied des Vorstands der Bayer AG und Leiter der Division Pharmaceuticals des Unternehmens, spricht gerne vom „Purpose“ seiner Branche – mit „Sinn“ oder „Bestimmung“ wohl besser übersetzt als mit „Zweck“. Und er spricht vom Dreiklang: „Wir schaffen neues Wissen an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und der Anwendung, das sich in neuen Arzneimitteln Bahn bricht. Mit diesen Produkten sind wir – zweitens – Netto-Exporteure, wir sind eine der Branchen mit den tiefsten Wertschöpfungsketten in Deutschland und erzeugen Werte, Wertschöpfung.“ Und das Dritte? „Mit den Arzneimitteln schaffen wir Durchbrüche, die einen Unterschied im Leben kranker Menschen sind, die Krankheiten behandelbar machen, Leben verlängern, die Produktivität erhöhen.“ Das klingt nach: Gäbe es die Branche nicht, müsste man sie erfinden; wie keine andere steht sie für Gesundheit, Innovation und Wohlstand.
Forschung: Deutschland will den globalen Innovationsboom mitgestalten
Tatsache ist: Deutschland hat damit begonnen, seine Hausaufgaben zu machen, um international den globalen Innovationsboom ganz vorne mitzugestalten. „Wir haben unheimlich viel geschafft in den vergangenen 4 Jahren“, so Luisa Wasilewski, Expertin für digitale Gesundheit und Chefin von Brainwave – und spielt damit auf die Aufholjagd in Sachen Digitalisierung an. „Die elektronische Patientenakte ist da“, viele Weichen wurden gestellt. Sie plädiert dafür, die Menschen mitzunehmen, sieht eher ein „Change“- als ein „Technologiethema“: „Viele Menschen haben Angst vor Künstlicher Intelligenz, deshalb müssen wir kommunizieren, Gesundheitskompetenzen aufbauen, die Menschen mit auf die Reise nehmen.“
Vielleicht liegt es daran, dass solche Geschichten, wie sie der Data Scientist Professor Aldo Faisal bei der ZEIT-Veranstaltung im Gepäck hatte, zu wenig bekannt sind. Der Neurowissenschaftler geht ganz neue Wege: In einem Projekt, das er in Großbritannien durchführte, suchte er mit seinem Team in Bezahldaten, die Menschen beim Kauf hinterlassen, nach Gesundheitssignalen. Und fand heraus: Frauen, die an Eierstockkrebs erkrankt waren, hatten bereits 8 Monate vor der Diagnose klare Signale am Einkaufstresen hinterlassen – zum Beispiel, weil sie Mittel gegen Verdauungsstörungen gekauft hatten. „Das gibt uns eine Idee, wie uns kleinste Veränderungen in Datensätzen Hinweise auf die Gesundheit erlauben.“ Das Prinzip soll nun auch bei anderen Erkrankungen weiterentwickelt werden. Die Frauen hatten dem Blick in ihre Daten zugestimmt.
Wettbewerbsfähigkeit: „Wie bleibt Europa gesund?“
Dass Pharmaforschung kein Selbstzweck ist, zeigen solchen Daten: „Die Menschen in der EU haben heute eine 30 Jahre längere Lebenserwartung als vor 100 Jahren“, sagte Moderator, Arzt und ZEIT-Redakteur Jan Schweitzer. „Und das liegt natürlich auch an medizinischen Innovationen.“ Und ergänzt, dass die Sterblichkeit bei Krebs in den vergangenen 20 Jahren um 20 Prozent zurückgegangen sei. Die Frage sei deshalb: Wie bleiben wir in Europa wettbewerbsfähig und innovativ? „Oder anders: Wie bleiben wir in Europa gesund?“, so der Journalist.
Wenn Bayer-Manager Oelrich an die Rahmenbedingungen für eine blühende Pharmaforschung denkt, sagt er: „Es ist eben alles nicht nur schön.“ Europa und insbesondere Deutschland seien in den vergangenen Jahren zurückgefallen. „Das liegt nicht daran, dass unser akademisches Wissen schlechter geworden ist, sondern in erster Linie daran, dass das Übersetzen dieses Wissens in Produkte schlechter geworden ist.“ Es hapert an der Translation. Er sieht viel Luft bei der Bereitstellung von Wagniskapital; ein Instrument, das in den USA sehr viel effektiver funktioniert, wie der Arzt, Wissenschaftler und Unternehmer Dr. Mridul Agrawal darstellte. Dort gilt Kendall Square als Vorzeigebeispiel für ein Innovationsökosystem, bei dem die Wissenschaft und privates Kapital die – in US-amerikanischer Bescheidenheit – „most innovative square mile on earth“ geschaffen haben. Kendall Square liegt bei Boston, USA, und hat sich auf Translation spezialisiert. Translation – das ist das Scharnier, das aus hervorragender Grundlagenforschung Ausgründungen in Unternehmen möglich macht. „Am Kendall Square begegnen sich privates Kapital und Akademie; Biotech ist im Grunde dort erfunden worden“, so Oelrich. Es gebe gar keinen Grund, „dass wir das hier nicht auch können. Deshalb haben wir das Translationszentrum für Gentherapien und Zelltherapien zusammen mit der Charité in Berlin gegründet. Vielleicht der Startpunkt für ein „Boston an der Spree“?
Mit der Nationalen Pharmastrategie hat die Bundesregierung Voraussetzungen geschaffen, dass Deutschland wieder den Anschluss packt. Entsprechende Gesetze wurden bereits auf den Weg gebracht und müssen nun umgesetzt werden. Aber noch eines ist dem Bayer-Manager wichtig: Zum Innovationsökosystem gehört für ihn auch der Bereich Preise und Erstattung – und damit Marktattraktivität. Gesundheitsausgaben, so das Credo der Branche, müssten in diesem Zusammenhang als Investition in die Gesundheit der Menschen und damit in die Zukunft gesehen werden – es eine klare Absage an einseitige Kostendämpfungsmaßnahmen á la GKV-Finanzstabilisierungsgesetz.
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