Keine Veranstaltung dieser Art, wo nicht auf Deutschland als die ehemalige Apotheke der Welt hingewiesen wird. Das Bild ist aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg. Damals kamen über 80 Prozent der weltweit verfügbaren pharmazeutischen Wirkstoffe aus deutscher Produktion und Entwicklung. Mit Ende des Krieges war es damit vorbei. Der Vertrag von Versailles machte auch vor deutschen Patenten nicht halt; 1918 stand die Welt-Apotheke mit leeren Händen da.
Vielleicht ist es auch an der Zeit, sich von dieser Nostalgie zu verabschieden. Denn selbst wenn Deutschland sich auf seine pharmazeutischen Stärken besinnen würde, liegt es nicht nur an Standortschwächen, dass das Land gerade dabei ist, im internationalen Ranking der Forschernationen an Bedeutung zu verlieren. Es ist auch die Erkenntnis in anderen Ländern, dass eine starke Arzneimittelentwicklung gut ist für die Volkswirtschaft, für die Menschen, die dort leben, für die Versorgungssicherheit mit Arzneimitteln und für den Wohlstand einer Nation. Deshalb wird massiv investiert; es hat sich herumgesprochen, dass ein international wettbewerbsfähiger Pharmastandort eine ziemlich gute Idee ist. Die internationale Konkurrenz ist groß geworden. Und wird wachsen.
Die Stärken des deutschen Wissenschaftsstandortes

Das Gejammer über den Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort kann keiner mehr hören, deshalb tat es gut, dass Dr. Jasmina Kirchhoff zunächst die Stärken betonte, die den Pharmastandort ausmachen; sie ist im Institut der Deutschen Wirtschaft Projektleiterin für den Pharmastandort: „Wir haben sehr gut ausgebildete Arbeitskräfte, wir haben wichtige Zulieferindustrien vor Ort, die Forschungsinfrastruktur und die Qualität der Forschung wird gelobt.“ Aber andere schlafen nicht; Länder wie China „wollen globaler Innovationsmotor sein. Und die USA pumpen Milliarden in die biotechnologische Forschung.“
Das Signal, dass Deutschland sich bewegen muss, ist auch in der Politik längst angekommen – ein paar mögliche Weichen reifen in Form von Gesetzentwürfen heran. Da sind die Entwürfe für die beiden Digitalgesetze, die das Bundeskabinett Ende August beschlossen hat. Oder die neue Industriestrategie, die der Wirtschafts- und Klima-Minister vorgelegt hat. Was es jetzt braucht, ist: Tempo. Denn das internationale Umfeld für medizinische Spitzenforschung ändert sich rasant.
Doch dafür sind einige dicke Bretter zu bohren, wie nicht nur die von Dr. Kirchhoff vorgestellten Daten zeigten, sondern auch das, was Professor Dr. Markus Lerch, Vorstandsvorsitzender des Münchner Klinikums LMU, im Gepäck hatte:

- Die jahresdurchschnittlichen Wachstumsraten der F&E-Aufwendungen der Pharmaindustrie sind in Deutschland rückläufig (2018 bis 2022: 3,1%), in China (15,6 %) und den USA (9,4 %) haben sie dagegen deutlich zugelegt.
- Bei den industrieveranlassten klinischen Studien verliert Deutschland rasant an Bedeutung – nicht nur gegenüber den USA (uneinholbar vorne) oder China, sondern auch innerhalb Europas. Bei den Studien zu den Gen- und Zelltherapien „scheint Europa bereits abgehängt zu sein“, so Kirchhoff. Dieser Innovationsschub findet fast nur noch in Nordamerika und Asien statt. Lerch ergänzte: „Wir kriegen keine klinischen Studien mehr von der Pharmaindustrie – aus einer Reihe von Gründen. Spanien zieht mit großen Meilenstiefeln an Deutschland vorbei.“
- Risikokapital ist rar in Deutschland – in Großbritannien wird in die Biotechnologie das 3-fache investiert, in Benelux doppelt so viel. Solches Kapital ist die Voraussetzung etwa für Ausgründungen – damit aus Innovationen neue Therapien entstehen können. Auch Frankreich ist an Deutschland vorbeigezogen. Der Grund: Dort können seit 3 Jahren investierende Unternehmen Verluste, die bei der Gründung von Start-ups entstehen – etwa, weil ein Wirkstoff nicht das erhoffte Ergebnis geliefert hat – steuerlich geltend machen. Professor Lerch: „Das Ergebnis ist eine rapide Zunahme von Ausgründungen in der Biotech-Industrie.“ In Deutschland bleibt der Investor auf seinen Verlusten komplett sitzen: Anreiz ist anders.
- Und schließlich: Diese „unerträgliche Bürokratie“ (O-Ton Lerch). Und hier besonders die Digitalisierung. Obwohl ganz Europa eine einheitliche Datenschutzgrundverordnung hat, widerspricht die „Auslegung durch die deutschen Datenschützer diametral dem, wie das in anderen Ländern gesehen wird“, so der Universitätsprofessor.
Sein Fazit: „Der Digitalisierungsgrad ist in Deutschland eines der schlechtesten der Welt. In der Medizin wird 95 Prozent der Kommunikation auf Papier vorgenommen – meistens in Form eines Faxes.“
Deutschland: Innovationsstandort stärken
Deutschland muss aufwachen, wenn es den Anschluss nicht verlieren will; Rezepte, um die Misere zu ändern, gibt es genug. Wirtschaftswissenschaftlerin Dr. Kirchhoff sagt: „Da, wo ich forsche, da, wo ich entwickle, produzier ich auch am Ende und bringe mein Arzneimittel an den Markt. Deshalb sollten wir alles dafür tun, den Innovationsstandort zu stärken.“ Wie das gehen kann, hat sie auf 4 Forderungen eingedampft.
- Vereinfachung von Genehmigungs- und Verwaltungsverfahren
- Stärken der digitalen Infrastruktur
- Verfügbarkeit qualifizierter Fachkräfte
- Verlässliche, faire Erstattungsregeln
„Was es auch braucht, sind regulatorische Rahmenbedingungen mit Blick auf Marktzugang, auf Patentschutz und Erstattung. Hier fehlt es an vielen Stellen an Verlässlichkeit – und das ist genau das, was man in der Pharmabranche braucht,“ so Kirchhoff. „Wir haben es mit sehr, sehr langen Innovationszyklen zu tun. Und wenn man sich da nicht darauf verlassen kann, dass Regelungen auch mal über ein paar Jahre gelten, dann ist das bei der Standortentscheidung eines Unternehmens nicht unbedingt förderlich.“
Die meisten der Anwesenden dürften das als eine Anspielung an das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz verstanden haben – das im Herbst 2022 verabschiedete Gesetz, das im Hinblick auf die Bewertung von Arzneimittelinnovationen als „innovationsfeindlich“ gilt. Vfa-Präsident Han Steutel, sein Verband vertritt die Interessen der forschenden Pharmaunternehmen, sieht es als ein „kulturelles Problem“, dass Arzneimittel als „Kostenproblem“ betrachtet werden, ohne den Nutzen zu betrachten. Das Gesetz? „Das schlechteste Signal, was man an die globale Pharmaindustrie senden konnte.“ Aber: „Ich bin Optimist.“ Seine Hoffnung ruht auf den momentan auf dem Berliner Parkett diskutierten Gesetzentwürfen.
Doch nun müssen aus den Entwürfen auch konkrete Gesetze werden. SPD-Bundestagsabgeordneter Sebastian Roloff immerhin signalisierte: „Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, dass sich die Begeisterung über das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz in engen Grenzen gehalten hat; die Bedenken und Folgen sind angekommen.“ Er hoffe, dass man da im kommenden Jahr „Verbesserungen erzeugen könne.“
Diplomatischer kann man das wohl nicht ausdrücken.
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