Bisher waren es 47 Tage. Das ist die durchschnittliche Dauer, die in Deutschland ein neues Präparat von der Zulassung durch die EU-Behörde EMA bis zum Markteintritt braucht. Das bedeutet: In keinem Land Europas haben Menschen schneller Zugang zu neuen Therapien als hierzulande. Die Zahl gilt für die Jahre 2018 bis 2021. Doch der vfa stellt in seiner Publikation „Spotlight Pharma Market: Marktzugangsmonitoring“ fest, dass der Wert „Time-to-Market“ im Zeitraum Juli 2022 bis Juni 2023 bereits bei 54 Tagen liegt – immerhin eine Erhöhung um 20 Prozent. „Zudem stehen weiterhin Markteintritte bereits in der EU zugelassener Arzneimittel aus, die den Wert von 54 Tagen noch steigen lassen könnten.“ Und: „Veränderte Erstattungsbedingungen können in jedem Fall ein maßgeblicher Grund sein, warum ´Launches` in Deutschland zuletzt vermehrt verschoben werden.“ Die forschende Pharmaindustrie macht vor allem das Ende 2022 in Kraft getretene GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) dafür verantwortlich, dass sich das Innovationsklima in Deutschland merklich verschlechtert hat (s. „Der Gesetzgeber als Innovationsverhinderungsmaschine“).
„Time-to-Market“ – das ist nur eine Kennziffer, wenn man Rückschlüsse auf den Zugang zu Arzneimittelinnovationen ziehen will. Da die Betrachtungszeiträume noch nicht weit zurückliegen und sich deshalb noch einiges ändern kann, spricht der vfa von „Indizien“, die darauf hindeuten, dass sich in Sachen Arzneimittelversorgung etwas ändert – und das zum Schlechten:
- Seit Einführung des Zusatznutzenverfahrens AMNOG im Jahr 2011 wurden 26 Arzneimittel wieder aus der Versorgung genommen. Das Problem bleibe „virulent“, wie es in dem vfa-Papier heißt. So waren auch die Rückzüge der Wirkstoffe Capmatinib (Bronchialkarzinom) und Spesolimab (generalisierte pustulöse Psoriasis) im vergangenen Jahr AMNOG-bedingt. Die beiden Medikamente gelten in den USA als ein medizinischer Durchbruch; die deutschen Entscheidungsgremien hingegen sehen keinen besonderen therapeutischen Nutzen. Das sorgte in der medizinischen Fachwelt für Kopfschütteln – es bedeutet aber auch, dass sich die Erstattungsbedingungen für Innovationen erheblich verschlechtern. Denn wo ein therapeutischer Nutzen aufgrund von methodischen Limitationen nicht erkannt wird, ist auch der Preisdruck auf den Unternehmer groß. „Das AMNOG gerät aus der Balance“ – so der vfa.
- Wenn es um die „Verfügbarkeitsquote“ geht, stand Deutschland bisher gut da: „Etwa eines von zehn Arzneimitteln, die bei der europäischen Zulassungsbehörde EMA zugelassen wurden, ist seit 2011 nicht in Deutschland eingeführt worden oder nicht mehr verfügbar“, heißt es im Spotlight Pharma Market – das macht unter dem Strich eine „sehr gute“ Verfügbarkeit von rund 90 Prozent. Doch auch hier sieht der Verband Fakten, die darauf hindeuten, dass sich die Situation für Deutschlands Patient:innen schleichend verschlechtert. Für den Zeitraum Juli 2022 bis Ende 2023 hat der vfa eine Verfügbarkeitsquote von 70,9 Prozent, für den Zeitraum von Juli 2020 bis Ende 2021 von 82,1 Prozent errechnet – das wäre eine deutliche Verschlechterung.
- Zulassungslücken ergeben sich, wenn Arzneimittel in den USA, aber nicht in Europa zugelassen sind – das gilt immerhin für jedes 4. Medikament, das „zwischen 2014 und August 2023 in den USA von der [amerikanischen Zulassungsbehörde] FDA positiv beschieden wurde.“ Seit dem Jahr 2015 sind 15 Arzneimittel, die in den USA mit einer so genannte breakthrough designation zugelassen wurden, in Europa nicht verfügbar. Der vfa spricht von einem „Innovationsrückstand“. Denn nach der FDA sind dies Wirkstoffe, die bei der Behandlung schwerer Krankheiten therapeutische Durchbrüche darstellen.
Das Spotlight richtet den Scheinwerfer darauf, dass es Arzneimittelinnovationen in Deutschland künftig schwerer haben könnten. Das aber will die Bundesregierung eigentlich verhindern. Deshalb hat sie in der Nationalen Pharmastrategie das Ziel ausgegeben: „Um die Attraktivität des Pharmastandorts Deutschland wieder zu erhöhen und auszubauen sowie eine zuverlässige Versorgung sicherzustellen, setzt sich die Bundesregierung dafür ein, dass die Rahmenbedingungen für eine starke, nachhaltige und international wettbewerbsfähige Pharmaindustrie insbesondere in Deutschland und auch in der Europäischen Union (EU) verbessert werden.“ Doch dazu müssen auch die Instrumente AMNOG und GKV-FinStG auf den Prüfstand und überarbeitet werden. Darauf wartet die Pharmabranche bisher vergebens.
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