Anfang des Jahres wurde die so genannte „Neupatientenregelung“ abgeschafft – eine Berliner Hausärztin erzählt im Interview, weshalb das fatale Folgen für die Patient:innen hat, insbesondere für chronisch Kranke. Foto: ©iStock.com/SeventyFour
Anfang des Jahres wurde die so genannte „Neupatientenregelung“ abgeschafft – eine Berliner Hausärztin erzählt im Interview, weshalb das fatale Folgen für die Patient:innen hat, insbesondere für chronisch Kranke. Foto: ©iStock.com/SeventyFour

Weshalb viele Arztpraxen keine neuen Patient:innen mehr aufnehmen

Sie wollen den Facharzt wechseln oder suchen nach einem Umzug nach einer neuen Hausärztin? Das könnte schwierig werden. Denn viele Ärzt:innen nehmen keine neuen Patient:innen mehr auf. Weshalb das so ist und warum chronisch kranke Menschen besonders häufig als Neupatient:innen abgewiesen werden, darüber haben wir mit Dr. Petra Sandow gesprochen, einer Berliner Hausärztin mit 35 Jahren Berufserfahrung.

Frau Dr. Sandow, nehmen Sie in Ihrer Praxis noch neue Patient:innen auf?

Dr. Petra Sandow: Ja, das tue ich. Und sie sind oft so dankbar, dass es fast schon weh tut.

Das liegt womöglich auch daran, dass viele andere Ärzt:innen, vor allem jüngere, keine Neupatient:innen mehr aufnehmen. Weshalb?

Dr. Petra Sandow, Berliner Hausärztin
Dr. Petra Sandow, Berliner Hausärztin. Foto: privat

Sandow: Es ist schon länger so, dass wir Ärzte nicht jede Arbeit, die wir tun, auch bezahlt bekommen. Im Durchschnitt werden nur zwei Drittel unserer Leistungen erstattet. Ein neuer Patient ist sehr arbeitsaufwändig – da kann ich die jüngeren Kollegen schon verstehen, die sagen, ich mache nur das, wofür ich bezahlt werde. Der Automechaniker wird auch für jedes Auto entlohnt – und nicht nur bis zu einer Obergrenze, ab der es kein Geld mehr für die Reparaturen gibt, die er macht. 

Bis vor Kurzem gab es die so genannte „Neupatientenregelung“. Was hatte es damit auf sich und weshalb wurde sie abgeschafft?

Sandow: Warum man das abschafft, das müssen Sie Herrn Lauterbach fragen. Das hat uns Haus- und Fachärzte alle ein wenig überrascht. Denn es war eine sehr sinnvolle Regelung, die berücksichtigt hat, dass ein neuer Patient sehr arbeitsintensiv ist. Ich muss ja eine komplette Anamnese machen: Welche Vorerkrankungen hat dieser Patient, welche Allergien hat er, welche Medikamente nimmt er. Wenn ich den Aufwand für eine gründliche Anamnese nicht extra bezahlt bekomme, sondern nur den Satz für vier Minuten, die ich im Regelfall von der Krankenkasse für einen Patienten erhalte, dann rechnet sich das einfach nicht. Die Neupatientenregelung sah vor, dass wir für ein Erstgespräch mehr als das Doppelte von dem bekommen haben, was wir normalerweise für einen Patientenkontakt erhalten. Da hat es sich durchaus gelohnt, einen neuen Patienten aufzunehmen. Aber das ist jetzt zum Jahreswechsel komplett abgeschafft worden. Wir bekommen also für neue Patienten, die wir am Anfang vielleicht auch häufiger sehen müssen, bis wir sie wirklich kennen, genau die gleiche budgetierte Summe wie für alle anderen.

Von welcher Summe sprechen wir da?

Sandow: Das hängt von der Fachrichtung ab. Die Regelung galt ja nicht nur für Hausärzte, sondern auch für fachärztliche Kollegen. Und es hängt außerdem davon ab, um was für einen Patienten es sich handelt – ist es ein Rentner, ein Arbeitnehmer, ein Familienmitglied. Aber unabhängig davon lag die Grundpauschale für Neupatienten doppelt so hoch wie für Bestandspatienten. Wenn ich also 45 Euro pro Quartal für einen normal versicherten Menschen bekomme, dann waren es bei einem neuen Patienten einmalig nahezu 90 Euro. 

Medizinische Versorgung von Patient:innen
Arztpraxen: Viele nehmen keine neuen Patient:innen mehr auf. Foto: ©iStock.com/monkeybusinessimages

Gab es irgendeine Erklärung dafür, weshalb der Gesundheitsminister das abgeschafft hat?

Sandow: Nein, natürlich nicht. Wir haben nur eine Mitteilung bekommen, dass es das nicht mehr gibt. Insbesondere die Fachärzte nehmen deshalb neue Patienten nahezu gar nicht mehr auf. Wenn ein Patient schon immer beim Hals-Nasen-Ohren-Arzt um die Ecke war, dann kann er da weiter hingehen. Aber wenn er sagt, ich möchte den HNO-Arzt wechseln, dann hat er fast keine Chance, woanders unterzukommen – das ist besonders nach einem Umzug ein Dilemma.

Aber der Gesundheitsminister wollte doch dafür sorgen, dass kranke Menschen schneller Termine bei Fachärzt:innen bekommen.

Sandow: Es gibt tatsächlich ein bisschen Extrageld, wenn ich als Hausärztin für meinen Patienten einen Termin beim Facharzt organisiere, der innerhalb von drei Tagen stattfindet. Allerdings müssen solche Termine per Telefon vereinbart werden. Das hat zur Folge, dass mein Personal jetzt deutlich mehr Arbeit hat und ständig am Telefon hängt. 

Weshalb haben es Patient:innen mit chronischen Erkrankungen besonders schwer, Ärzt:innen zu finden?

Sandow: Wenn ich einen neuen Patienten habe, der sehr jung ist, dann habe ich mit dem im Vorfeld nicht viel zu klären. Haben Sie Vorerkrankungen? Nein. Nehmen Sie Medikamente? Nein. Sie haben einen Infekt, ich schreibe Ihnen was auf – das ist relativ simpel. Jemand mit chronischen Erkrankungen muss deutlich zeitintensiver betreut werden und braucht in der Regel auch viele unterschiedliche Medikamente. Es gibt aber Medikamentenbudgets – je mehr Medikamente ich verordne, desto schwieriger wird es, diese Budgets einzuhalten. Eventuell muss ich dann begründen, warum ich mein Budget überschreite. Kurzum: Es ist mit einem großen Verwaltungsaufwand verbunden, einen chronisch kranken Patienten neu aufzunehmen.  

Gilt das für alle gleichermaßen? Oder gibt es Unterschiede, etwa zwischen HIV-Patient:innen und solchen mit Diabetes?

HIV-Patient:innen haben Probleme in Arztpraxen aufgenommen zu werden
HIV-Patient:innen gelten als zeitintensiv und teuer. ©iStock.com/dusanpetkovic

Sandow: Die gibt es. Diabetiker sind im Regelfall in ein DMP eingeschlossen, ein Disease Management Programm, für das es zusätzliches Honorar gibt. Für HIV-Patienten dagegen gibt es kein DMP, sie gelten nur als teuer und zeitintensiv. Wir alten Hausärzte arbeiten mit einer Mischkalkulation, tun also auch Dinge, die nicht bezahlt werden. Aber viele junge Kollegen denken betriebswirtschaftlicher und sagen: Der Diabetiker ist interessant, da bekomme ich jeden Monat eine Extrasumme. Aber HIV-Patienten sind finanziell nicht interessant, das mach ich nicht. 

Was müsste geschehen, damit alle Menschen, die ärztliche Versorgung benötigen, sie auch schnell und unkompliziert bekommen? Was müsste sich ändern?

Sandow: Das ist wie Aladins Wunderlampe. Ich bin seit 35 Jahren Allgemeinmedizinerin und habe noch andere Vergütungssysteme kennengelernt, die in meinen Augen deutlich sinnvoller waren – nämlich die so genannten Einzelleistungs-Vergütungen. Heute werden wir einmal im Quartal für jeden Patienten bezahlt, egal, wie oft er kommt. Besser wäre es, wenn wir nach Leistung bezahlt würden. 

In immer mehr Hausarztpraxen arbeiten angestellte Mediziner:innen, die nach einiger Zeit wieder wechseln. Wie beurteilen Sie diesen Trend?

Sandow: Es gibt kaum noch Kollegen, die sich niederlassen wollen. Die Anstellung ist attraktiver: Ich habe ein sicheres monatliches Einkommen, ich gehe kein Risiko ein. Allerdings wird mir auch vorgeschrieben, was ich zu tun und zu lassen habe – und da sind betriebswirtschaftliche Interessen manchmal wichtiger als rein medizinische.  

Was wünschen Sie sich vom Gesundheitsminister?

Sandow: Er sollte entweder die klassische Einzelleistungsvergütung wieder einführen, die es früher gab. Oder ein Bezahlsystem nach Erkrankung. Wir sollten also für das bezahlt werden, was wir leisten. Und: Wir sollten auch für die Prävention angemessen bezahlt werden. Prävention ist enorm wichtig und sie würde langfristig sogar Geld einsparen – denn eine Krankheit, die ich nicht bekomme, verursacht auch keine Kosten.

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