Arzneimittel: Was sie alles können

Fortschritte in Medizin und Medizintechnik werden oft als Kostentreiber verflucht. Doch dieser Blickwinkel ist zu eng. Innovative Arzneimittel können nicht nur einen großen Unterschied in der Behandlung von Menschen mit Erkrankungen wie Krebs machen. Sie haben auch weitreichende soziale Auswirkungen (Social Impacts) auf die Wirtschaft und Gesellschaft als Ganzes. Bei der Frage, was uns Gesundheit wert ist, wird das häufig unterschlagen.

Computertomografie, Telemedizin oder Nanoroboter, die Wirkstoffe dahin bringen sollen, wo sie gebraucht werden, aber auch innovative Impfstoffe und Arzneimittel: Das sind Beispiele für medizinisch-technischen Fortschritt. Sie verbessern die Art und Weise, wie kranke Menschen behandelt werden können. In manchen Bereichen stellen sie eine Revolution dar: Die CAR-T-Behandlung bei bestimmten Blutkrebsarten kann für die Betroffenen den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen. Die mRNA-Impfstoffe, die in der Pandemie erstmalig zum Einsatz kamen, haben vielen Millionen Menschen das Leben gerettet oder vor schweren Verläufen geschützt. Und schon steht der nächste Umbruch ins Haus: die Zulassung eines ersten Arzneimittels auf Basis der Genschere CRISPR-Cas. Vereinfacht ausgedrückt können diese Präparate defekte Gensequenzen ersetzen. Gerade für die Forschung seltener Erkrankungen eröffnet CRISPR-Cas ganz neue Zukunftsaussichten, denn die meisten von ihnen sind genetischen Ursprungs.

Genschere CRISPR-Cas
CRISPR-Cas: Neue Zukunftsaussichten. Foto: ©iStock.com/CIPhotos

Die Beispiele haben etwas gemeinsam: Sie kosten Geld, teilweise viel Geld. Doch ihr Wert wird nur ungenügend erfasst, wenn lediglich das Preisschild betrachtet wird. Denn das zeigt lediglich die Kosteneffekte von Fortschritt auf die Gesundheitsversorgung – es ist die Sicht der Kostenträger. Dabei wird vernachlässigt, welche Effekte der Fortschritt auf die Gesundheit von Menschen und den Gesellschaften, in denen sie leben, hat. Der Ökonom Dr. Tomas J. Philipson plädiert dafür, bei der Betrachtung des Nutzens neuer Arzneimittel eine weitere Perspektive einzunehmen, die den gesamten Lebenszyklus solcher Präparate miteinbezieht. Er schreibt dazu: „Langfristig betrachtet, zählt der Preis von Gesundheit, nicht der Preis von Gesundheitsversorgung. Die meisten Innovationen erhöhen die Ausgaben in der Gesundheitsversorgung, aber senken die Ausgaben für Gesundheit.“

Arzneimittel: Viel mehr als „nur“ Krankheiten behandeln

Denn: Neue Arzneimittel können viel mehr, als „nur“ die Sterblichkeit zu senken, die Krankheitslast zu reduzieren oder Lebensqualität zu schenken (s. Grafik). Neben diesen rein gesundheitlichen Impacts gesellen sich durch den Erhalt der Arbeitsfähigkeit sozioökonomische Auswirkungen. Die gehen über verringerte Produktionsausfälle weit hinaus, denn sie ermöglichen auch die Aufrechterhaltung unbezahlter Aktivitäten, die eine Gesellschaft zusammenhalten; dazu gehören etwa Kinderbetreuung, Nachbarschaftshilfe und andere ehrenamtliche Tätigkeiten. Ein Beispiel: Die rund 60.000 Menschen, die in Deutschland dabei helfen, eine der rund 1.000 Tafeln aufrecht zu erhalten und damit rund 2 Millionen Menschen mit Lebensmitteln versorgen, können das nur, wenn sie gesund sind. Auch vermiedene Ausgaben für die Pflege kranker Menschen gehört in die Kategorie der sozioökonomischen Effekte von medizinisch-technischem Fortschritt. 

Dies alles hat Auswirkungen auf den Haushalt der öffentlichen Hände; es hat fiskalische Impacts. Denn nur wer arbeitet, generiert Einkommens- und Mehrwertsteuer sowie Beitragseinnahmen für die Sozialversicherung. Gleichzeitig verringern sich kommunale Ausgaben für Menschen, die Hilfe benötigen. Medizinischer Fortschritt wirkt weit über die eigentliche Medizin hinaus und strahlt ab in alle Teile der Gesellschaft und Wirtschaft.

Arzneimittel: Wirken über das hinaus, für was sie entwickelt wurden

Arzneimittel: Wirken über das hinaus, für was sie entwickelt wurden
Wirksame Arzneimittel helfen indirekt auch Familien & Freund:innen. Foto: CC0 (Stencil)

Nutzen, Wert und akzeptierter Preis von Fortschritt in der Medizin kann sich deshalb nicht in der Bewertung erschöpfen, was eine Maßnahme A bei einer bestimmten Patient:innengruppe B erreicht. Ökonom Philipson zeigt an Erkrankungen wie Alzheimer, Multipler Sklerose oder Krebs, wie groß der „burden to caregivers“ ist, also die Belastungen, denen Menschen ausgesetzt sind, die diese kranken Menschen pflegen und betreuen, seien es Gesundheitsprofis oder Familienangehörige. Nicht mehr ganz frische Daten aus den USA (sie sind von 2015) zeigen zum Beispiel, dass Familienangehörige von Alzheimer-Erkrankten mehr als 50.000 US-Dollar im Jahr für die häusliche Pflege aus der Privatschatulle bezahlen – dieser Beitrag dürfte seitdem gestiegen sein. „Therapien, die den Pflegebedarf verringern, habe positive Spill-Over-Effekte, die in Gesundheitstechnologiebewertungen (Health Technology Assessment) berücksichtigt werden müssten, es aber meist nicht werden“, schreibt Philipson. „Und da, wo diese Spill-Overs in Studien berücksichtigt werden, findet die Evaluierung nur für die formelle Pflege statt und nicht für die, bei denen die Familien die Pflege übernehmen.“

Der schwedisch-amerikanische Wissenschaftler geht noch weiter: Ein Mehr an Gesundheit, so schreibt Philipson, geht über den individuellen Nutzen weit hinaus und hat direkte Auswirkungen auf die Gesundheit der nächsten Angehörigen. So zeigen Studien, dass der Tod des Ehepartners das Risiko der Zurückgebliebenen erhöht, in ein Krankenhaus eingeliefert zu werden oder zu sterben. Die Kosteneffektivität einer Therapie wird in manchen Fällen erst deutlich, wenn die Belastungen berücksichtigt werden, die die Erkrankung eines Menschen für sein direktes Umfeld mit sich bringt. Der Wissenschaftler Dr. Anirban Basu vom CHOICE-Institut in den USA konnte in einer Untersuchung am Beispiel von Prostatakrebs zeigen, dass „Kosten-Nutzen-Betrachtungen die Gesamtkosten und den Gesamtnutzen besser widerspiegeln, wenn sie diese familiären Effekte einbeziehen.“ Soll heißen: Wenn ein neues Arzneimittel kranke Menschen zurück in ein aktives Leben bringen kann, hilft das nicht nur den Betroffenen, sondern indirekt auch Familien und Freund:innen. Davon profitiert die Gesellschaft als ganzes.

Neue Arzneimittel schaffen Perspektiven

Wenn es um die Bewertung von medizinischem Fortschritt geht, fällt ein Faktor fast ganz hinten runter. Das ist der so genannte Optionswert, den eine medizinische Intervention für schwer kranke Menschen schaffen kann. Damit ist gemeint, dass eine Behandlung, die an sich eine Verbesserung darstellt, aber zum Beispiel noch nicht zufriedenstellend wirksam ist oder mit unerwünschten Nebenwirkungen einhergeht, eine (lebensrettende) Brücke sein kann, bis die Forschung bessere Optionen entwickelt hat. 

Pharma Fakten-Grafik: HIV/AIDS - Lebensrettende KombinationstherapieEin Beispiel: HIV-infizierte Menschen konnten in den frühen 1990er-Jahren lediglich mit Zidovudin antiretroviral behandelt werden – etwas anderes gab es nicht. Die Wirkung war „bescheiden“ (O-Ton Philipson), aber trotzdem ein Schritt nach vorne. 1996 wurde dann die HAART-Therapie eingeführt, die nichts weniger als die Wende war: Erstmals gelang es mit einer Kombination von Arzneimitteln dem HI-Virus die akute Todesbedrohung zu nehmen (s. „HAART war die Wende“). „Obwohl viele Patient:innen mit HIV/Aids, die mit Zidovudin behandelt wurden, starben bevor HAART eingeführt wurde, überlebte ein Teil der Patient:innen lang genug, um HAART erhalten zu können“, schreibt Philipson. Mit der Einführung der Kombinationstherapien fielen die Todesraten um bis zu 90 Prozent (s. Grafik). Ohne Zidovudin hätten viele davon nicht profitieren können; sie wären längst tot gewesen. Zidovudin verschaffte diesen Menschen Zeit, bis eine bessere Therapieoption zur Verfügung stand. 

Das Beispiel zeigt auch, wie wichtig Schrittinnovationen sind. Für kranke Menschen können sie Lebensperspektiven hinein in eine Zeit bieten, in der Forschung und Entwicklung ihnen bessere Behandlungen anbieten kann. Und es zeigt, dass das einseitige Schielen auf Preisschilder von medizinisch-technischen Innovationen fahrlässig ist. Es fördert eine innovationsfeindliche Atmosphäre. Und verschließt den Blick auf den gesamtgesellschaftlichen Nutzen.

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