
Entscheidend ist nicht, in welchem Aggregatzustand ein neues Arzneimittel daherkommt – als Pulver, Tablette, Flüssigkeit – und was die Herstellung kostet. In einer winzigen Tablette, nur wenige Gramm schwer, steckt Produktionsaufwand, klar. Vor allem aber steckt darin das Wissen, wie wir eine bestimmte Krankheit wirksam und sicher behandeln können. Und das ist das Ergebnis von jahrelanger, manchmal jahrzehntelanger Forschung. Eine Tablette ist ein in molekulare Struktur verdichtetes, therapeutisches Konzept – oder: medizinischer Nutzen auf wenige Gramm gebracht.
Die Entwicklung solcher Wirkstoffe muss finanziert werden. Forschende Pharmaunternehmen tun das auf Basis des Geldes, welches sie mit ihrem aktuellen Portfolio verdienen; die Einnahmen von heute sind die Finanzierungsgrundlage für die Medikamente von morgen. Wer also den Wert von Arzneimittelinnovationen über Produktionskosten darstellen will und Preise auf Basis eben dieser Kosten fordert, hat von Marktwirtschaft, Innovationszyklen und insbesondere vom Geschäftsmodell forschender Unternehmen nicht viel verstanden.
Eine Tablette? Das Ergebnis langer Forschung
Unscheinbarer kann sie nicht sein, eine Tablette mit dem SGLT-2-Hemmer Empagliflozin. Ursprünglich als Antidiabetikum entwickelt, ist daraus mittlerweile ein Medikament geworden, das auch Herz und Nieren schützt. Diese Arzneimittel gelten als eine Revolution in der Medizin; das Deutsche Zentrum für Herzinsuffizienz der Würzburger Uniklinik schreibt von „Wunderdroge“ und „Allzweckwaffe“. Das alles war mit enormem Forschungsaufwand verbunden.
Den Preis von Innovationen an den Produktionskosten zu orientieren, ist eine kuriose Idee, die regelhaft nur bei Arzneimitteln aufgefahren wird: Eine Zeitung aus Basis der reinen Druckkosten? Das ist unsinnig – erst recht im digitalen Zeitalter. Auch auf die Idee, beim Autohändler als Preis eines neuen Autos nur die Herstellungskosten heranzuziehen, ist noch niemand gekommen. Ausgerechnet bei der Pharmabranche aber – mit ihren besonders langen, ressourcenintensiven, risikoreichen Entwicklungsprozessen – soll das funktionieren?
Neue Arzneimittel: Teil des Innovationszyklus

Er kommt ebenfalls als Kapsel daher und ist in der Herstellung entsprechend günstig – hat es aber in sich: Lenalidomid ist ein Immunmodulator. Das sind Wirkstoffe, die so heißen, weil sie die Funktionsweise des Immunsystems regulieren können. Entwickelt wurde er zur Behandlung des Multiplen Myeloms (MM), eine Krebserkrankung des Rückenmarks. Heute ein Generikum, ist es noch immer ein zentraler Bestandteil der Therapie, welche die Prognosen der Betroffenen deutlich verbessert. Der Preis ist nach Patentablauf um 99,5 Prozent gesunken. Warum? Weil die Produktion praktisch nichts kostet und verschiedene Generikahersteller im Wettbewerb stehen. Hätte Lenalidomid seinerzeit, als es noch unter Schutz vor Nachahmung stand, nicht deutlich über Produktionskosten verkauft werden können – es hätte dieses segensreiche Medikament, das heute nahezu nichts mehr kostet, aber immer noch eine Standardtherapie ist, wohl nicht gegeben (s. auch: „Knochenmarkkrebs wird heilbar werden“). Praktisch hat das Präparat die Entwicklung seiner Nachfolger möglich gemacht – bis hin zu CAR-T-Zelltherapien, die heute für bestimmte Patient:innengruppen verfügbar sind. Lenalidomid ist ein Paradebeispiel für einen funktionierenden Innovationszyklus.
Kostenbetrachtung: Der Durchbruch des Jahres für 40 US-Dollar?

Das gerade prominenteste Beispiel für die Kostenbetrachtung von Arzneimittelinnovationen ist Lenacapavir. Das antivirale Medikament ist so wirksam, dass es als ein entscheidendes Instrument gilt, um HIV beenden zu können: Auf der Weltaidskonferenz in München erhob sich die globale wissenschaftliche HIV-Elite bei der Präsentation der Daten zu stehenden Ovationen, dass Science Magazine kürte es zum „Durchbruch der Jahres 2024“; höchste Anerkennung auch aus dem Tempel der Wissenschaft, der Harvard University. Lenacapavir hat eine Entwicklungszeit von mehr als anderthalb Jahrzehnten hinter sich, als Injektionslösung ist es eine klare Flüssigkeit – langweiliger kann etwas so Aufregendes nicht aussehen. In Deutschland pflegt man eine Diskussion, wonach sich der so genannte Kapsid-Inhibitor für nur 25 bis 40 US-Dollar produzieren ließe, einschließlich einer Gewinnmarge für den Hersteller. Natürlich war das Unternehmen schnell „das habgierigste“ der Welt – ungeachtet dessen, dass es eine lange Geschichte mit freiwilligen Lizenzvereinbarungen hat, welche dafür sorgen, dass jährlich mehr als 17 Millionen Menschen allein in ressourcenarmen Ländern mit HIV-Präparaten versorgt werden.
Wenn 25 bis 40 Dollar die jahrelange Forschung bezahlen sollen – und selbst die drittgrößte Volkswirtschaft der Erde nicht bereit ist, Innovationen nach ihrem Wert für Patient:innen und Gesellschaft zu honorieren, wird es die Lenacapavirs von Morgen nicht geben.
Preise senden Signale

Vom österreichischen Ökonom Friedrich August von Hayek, einem der einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts, stammt die Erkenntnis, dass Preise eine Signalwirkung haben und damit „den Menschen sagen, was sie tun sollen.“ Seine Theorien sind aktueller denn je – und Gegenstand umfangreicher wirtschaftlicher Studien. Auf die Entwicklung neuer Arzneimitteltherapien übertragen bedeutet das: „Indem wir die Anreize der Innovatoren [Anmerk.: z.B. forschende Unternehmen] mit denen der Gesellschaft in Einklang bringen [Bedarf an neuen Therapien], bietet ein wertorientierter Ansatz zur Preisgestaltung einen Mechanismus für einen nachhaltigen Strom pharmazeutischer Innovationen und sendet effiziente Preissignale, die den erwarteten Wert dieser Innovationen maximieren.“ Das ist das Ergebnis einer Studie des Office of Health Economics, London.
So klingen Wirtschaftswissenschaftler:innen manchmal. Es bedeutet im Umkehrschluss: Wer eine Megainnovation nicht entsprechend honoriert, sagt im Grunde: Ich will sie nicht (und auch nicht die, die noch kommen könnten). HIV, Krebs oder Alzheimer werden wir mit dieser Einstellung nicht wirksam bekämpfen können.
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