
Die Krankenkassen fordern Sofortmaßnahmen sowie ein Ausgabenstopp. Im RND-Interview erklärte Bundesgesundheitsministerin Nina Warken: „Wir werden jetzt prüfen, ob und wie wir kurzfristig reagieren müssen, und dann schnell entscheiden.“ Die DAK-Gesundheit machte jüngst wieder einmal innovative Arzneimittel zum Sündenbock und schlug einen „dynamischen Herstellerrabatt“ vor. Erst in der vergangenen Woche hat der Sachverständigenrat für Gesundheit und Pflege (SVR) massive Eingriffe in die Mechanismen vorgeschlagen, nach denen in Deutschland Arzneimittelinnovationen künftig erstattet werden sollen (s. SVR-Gutachten: Das Ende der Planbarkeit). Es sind die altbekannten Diskussionen, die immer hochkommen, wenn es um Sparmaßnahmen geht, die vermeintlich einfache Lösungen versprechen. Auch Orphan Drugs gegen seltene Leiden geraten dann ins Visier. Doch Tatsache ist:
- Der Arzneimittelanteil an den GKV-Gesamtausgaben ist seit Jahrzehnten stabil. Die Bewertung neuer Medikamente unterliegt schon heute strengen Kriterien – durch das „AMNOG-Verfahren“ ist geregelt, dass der Preis, der mit dem GKV-Spitzenverband verhandelt wird, am Nutzen des Arzneimittels festgemacht wird.
- Mit kurzfristigen Sparmaßnahmen bringt sich Deutschland im schlimmsten Fall langfristig um Investitionen, Innovationskraft, Wertschöpfung – und riskiert die Patientenversorgung. Einer BASYS-Untersuchung zufolge verursacht eine Erhöhung des Herstellerrabatts um einen Euro zwei bis drei Euro an Einkommensverlusten und Minderinvestitionen. Hinzu kommen mögliche negative Auswirkungen auf das zukünftige Arzneimittelangebot.
- Der deutsche Arzneimittelmarkt ist hochkomplex und stark reguliert – ein vermeintlich kleiner Eingriff ins System kann umfassende Auswirkungen haben. So passiert beim GKV-Finanzstabilisierungsgesetz: Es veränderte adhoc etablierte Mechanismen der Arzneimittelbewertung und -preisbildung. Die Folge: Teilweise waren innovative Medikamente nicht (mehr) verfügbar.
- Entscheidet sich Deutschland für einen Sparkurs, der einen einseitigen Fokus auf neue Arzneimittel setzt, sendet das ein deutliches Signal in die Welt – damit könnte die Bundesrepublik die Chance verpassen sich vor dem Hintergrund der Geschehnisse in den USA als starker Innovationsstandort zu positionieren. Laut einer Veröffentlichung des Pharmaverbands vfa weist die EU im Vergleich zu den USA „einen deutlichen Innovationsrückstand“ auf. 101 Arzneimittel sind in den vergangenen zehn Jahren in den USA, aber nicht in der EU zugelassen worden. Der vfa betont: „Je unattraktiver Leitmärkte wie Deutschland werden, desto größer wird der Innovationsrückstand der EU.“
Gesundheitssystem: Kosten dämpfen und Innovationen fördern

Im besten Fall gelingt es Deutschland, die Finanzierung des GKV-Systems nachhaltig zu stabilisieren und gleichzeitig Innovationen zu fördern – das muss kein Widerspruch sein, im Gegenteil. CDU/CSU und SPD wissen das: Im Koalitionsvertrag haben sie das festgeschrieben. Neue Medikamente sind nicht nur gut für die Patient:innen – sie können auch Sozialsysteme entlasten und die Wirtschaft ankurbeln, wenn die Menschen weniger Krankentage aufweisen und ihre Arbeitskraft erhalten bleibt.
„Wir werden Deutschland zum weltweit innovativsten Chemie-, Pharma- und Biotechnologiestandort machen“, heißt es seitens Bundesregierung. Man stelle sich diese Vision einmal vor: Mehr klinische Studien, die schwerkranken Menschen hierzulande neue Therapieansätze eröffnen und unsere Mediziner:innen zu weltweit gefragten Fachleuten für den aktuellen Stand der Wissenschaft machen; mehr Innovationen made in Germany und mehr Arbeitsplätze, welche zum Wirtschaftswachstum beitragen. Realität wird diese Vision nur, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. 2023 hatte die Ampel-Regierung eine Nationale Pharmastrategie beschlossen; diese muss nun weiterentwickelt werden. Und auch darüber hinaus gibt es viel zu tun – wie zum Beispiel:
- Medizinforschungsgesetz umsetzen: Es enthält u.a. wichtige Elemente, um klinische Studien zu beschleunigen bzw. den bürokratischen Ablauf zu vereinfachen. In Kombination mit den Digitalgesetzen – um das Potenzial von Gesundheitsdaten zu nutzen – kann es die Rahmenbedingungen für Forschung in Deutschland verbessern. Mehr Forschung wird jedoch nur möglich, wenn es eine belastbare Infrastruktur und genügend Fachkräfte im Land gibt.
- AMNOG weiterentwickeln: Dieses Verfahren ist ein wichtiger Faktor, der mitentscheidet, ob neue Arzneimittel in die Patientenversorgung gelangen oder nicht. Andere Länder beneiden Deutschland um das AMNOG – trotzdem gibt es Luft nach oben. Bei kleinen Patientengruppen bzw. seltenen Erkrankungen ist es oft nicht möglich, auf dieselbe Art und Weise und im selben Umfang Daten zu generieren wie bei Volkskrankheiten. Erkennt das AMNOG aufgrund unflexibler Evidenzanforderungen fälschlicherweise den Innovationsgrad eines Präparats nicht, hat das Auswirkungen auf die Preisverhandlungen und im Zweifel auf die Verfügbarkeit. Für solch besondere Therapiesituationen braucht es daher Verbesserungen in der Nutzenbewertung.
Potenzial von Gesundheitsdaten nutzen. Foto: ©iStock.com/anyaberkut - Orphan Drugs-Regelungen erhalten: Haben Orphan Drugs in Europa eine Zulassung erhalten, heißt das, dass sie bereits eine positive Nutzenbewertung von der Arzneimittelbehörde EMA bekommen haben. Im nachgelagerten deutschen Bewertungsverfahren gilt der Nutzen daher i.d.R. folgerichtig als bereits belegt – es muss vor der Preisverhandlung nur noch das Ausmaß bestimmt werden. Ohne diese Regelung hätte es laut einer vfa-Untersuchung mindestens jedes zweite heute verfügbare Orphan Drug nicht in die Versorgung der Patient:innen geschafft – weil die methodischen Ansprüche des deutschen Verfahrens nicht genügend auf seltene, schwere Erkrankungen angepasst sind.
- Rückbesinnung auf nutzenbasierte Preisfindung: Das Grundprinzip des AMNOG – wonach ein Arzneimittel, das mehr Nutzen bringt, auch mehr kosten darf – wurde in den vergangenen Jahren zunehmend ausgehöhlt, etwa durch Eingriffe wie das GKV-FinStG. Sich stärker auf dieses Prinzip zurückzubesinnen, könnte Anreiz für mehr Innovation bieten. Denkbar sind zudem neuartige Vergütungsmodelle, die z.B. abhängig vom tatsächlichen Therapieerfolg sind.
„Wir können jetzt die entscheidenden Weichen stellen für die Zukunft der gesamten Gesundheitswirtschaft – die Treiber sein kann für die wirtschaftliche Erholung und Stärkung ganz Deutschlands“, erklärte Dr. Kai Joachimsen, Hauptgeschäftsführer beim Pharmaverband BPI im März diesen Jahres.
GKV-Finanzierung: Nachhaltige Reformen
Klar ist unabhängig davon: „Es bedarf einer nachhaltigen Reform unseres Gesundheitswesens – nicht mit kurzfristigen Eingriffen ohne Abschätzung der Folgewirkungen, sondern mit Lösungen für strukturelle Probleme“, so vfa-Präsident Han Steutel. Reformvorschläge für die GKV gibt es zahlreich, für einige gäbe es parteiübergreifende Zustimmung. So könnte die Auslagerung versicherungsfremder Leistungen aus der Verantwortung der GKV zwischen 8,1 Milliarden Euro und 76,5 Milliarden Euro an jährlicher Entlastung bringen.
In Anbetracht der Tatsache, dass der Ausgabenanteil der patentgeschützten Medikamente an den Gesamtausgaben der GKV unter zehn Prozent liegt, bleibt die Frage, warum eigentlich geglaubt wird, dass man mit weiteren Einsparungen in diesem Sektor die massiven Probleme der Kassen lösen kann.
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