Die Wirtschaft wieder in Gang bringen – logo. Und den Verbrenner – natürlich. Eine Option für in Deutschland hergestellten Atomstrom? Auch nicht überraschend. Der frischgebackene Kanzlerkandidat Friedrich Merz sprach in der ARD-Sendung „Farbe bekennen“ über das, was sich in Deutschland ändern soll mit ihm als Chef der nächsten Bundesregierung. Auffallend war, was nicht erwähnt wurde: Die Gesundheit, die Pflege, die Rente. Angesichts des eher desolaten Zustandes dieser Säulen unseres Sozialstaates ist das überraschend.
Und auch wieder nicht: Schon im Koalitionsvertrag der Ampelregierung spielte Gesundheit nur eine Rolle an der Seitenlinie. Und selbst einige wichtige dort festgehaltene Ziele werden es wohl nicht in die Liste der abgearbeiteten Projekte schaffen: Gesundheit bleibt ein Polit-Stiefkind.
Karl Lauterbach: Ein „Herbst der Reformen“?
„Moment mal“ – hier würde Gesundheitsminister Karl Lauterbach einspringen. Die Digitalgesetze, das Medizinforschungsgesetz, die immer noch hart umkämpfte Krankenhausreform, die Verbesserung von Notfall- und ambulanter Versorgung, die geplante Entbürokratisierung – der SPD-Mann gilt als Gesetzesmaschine. Und die Liste ist nicht einmal vollständig. Nun hat er einen „Herbst der Reformen“ angekündigt; schließlich sei das Gesundheitssystem in einer Notlage, wie er im Bundestag erklärte.
Der Tatendrang überzeugt viele nicht. Neben viel fachlicher Kritik ist auch die Finanzierung zentraler Vorhaben nicht geklärt – z. B. für den Aufbau der neuen Präventionsbehörde BIPAM (oder wie sie am Ende heißen wird), bei dem der Bundesrat dem Minister in seiner Stellungnahme ein „veraltetes und verkürztes Verständnis von Gesundheit, Gesundheitsförderung und Prävention“ vorwirft. Oder bei der Reform der Krankenhäuser, wo der Bundesrechnungshof einen rechtswidrigen Finanzierungsplan bemängelt. Andere – wie die Krankenkassen – drücken das weniger vornehm aus.
Bündnis Gesundheit: Ein Neuausrichtung des Gesundheitswesens
Die Stimmung im Gesundheitswesen ist mies. Das Bündnis Gesundheit – eine Initiative von 40 Verbänden aus dem Gesundheitssektor – hat deshalb beim Bundeskanzler einen Gipfel eingefordert – und vorab schon mal ein Thesenpapier hingeschickt. Darin fordert es eine grundlegende Neuausrichtung des Systems, eine politische Steuerung und eine nachhaltige Finanzierung. Der Verband der Hausärzte warnte vor einem „Kipppunkt“ – und für die Krankenkassen ist der Mann im BMG längst der „teuerste Gesundheitsminister alle Zeiten“ (O-Ton AOK-Chefin Carola Reimann). Man könnte auch sagen: Die Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten, haben den Kanal voll – und zwar hochgradig.
Denn an einem großen Reformprojekt drückt sich die Politik bisher vorbei – und das ist die nachhaltige Sicherstellung einer solide finanzierten gesetzlichen Krankenversicherung. Zwar hatte das BMG im vergangenen Jahr „Empfehlungen des Bundesministeriums für Gesundheit für eine stabile, verlässliche und solidarische Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung“ vorgelegt. Dafür, dass es dabei um nichts weniger als eine zentrale Säule unseres Sozialstaates und des gesellschaftlichen Zusammenhalts geht, ist das Papier auffallend unambitioniert (s. „GKV-Reform: Wo bleibt der Ehrgeiz?“). Entscheidende Punkte, wie die sachgerechte Finanzierung versicherungsfremder Leistungen, stehen unter „Finanzierungsvorbehalt“. Das kann man getrost mit „dafür haben wir kein Geld“ übersetzen.
Das Problem dabei ist: Solange die Finanzierung der GKV nicht gesichert ist, wird hektisches Budgetlöcherstopfen zwangsläufig zum „Volksport“. Schon jetzt ist klar: „Das nächste Sparpaket kommt bestimmt.“ Ein langfristig auf Ziele ausgerichtetes, innovationsoffenes Gesundheitssystem ist so nicht gestaltbar. Das ist aus medizinischen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Gründen eine Katastrophe:
- Die Aufrechterhaltung einer modernen Medizin, die den Fortschritt zu den Menschen bringt, wird so nur eingeschränkt möglich sein. Schon heute gibt es Versorgungslücken im System, die belegen, dass die medizinische Realität den Möglichkeiten hinterherläuft.
- Dies ist angesichts der demografischen Entwicklung fahrlässig. Es muss das Interesse der Politik sein, dass Menschen in diesem Land möglichst lange gesund bleiben. Der Grad der Gesundheit der Gesamtbevölkerung definiert einen Teil der Zukunftsfähigkeit des Landes. Und da sind wir im europäischen Vergleich nur Mittelmaß.
- Das Drehen an der Beitragsschraube belastet Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Die Sozialabgaben steigen; der Griff ins Portemonnaie verschleiert den Reformbedarf und verschiebt die Probleme in die Zukunft. Der Bundeszuschuss in Höhe von 14,5 Milliarden Euro, mit dem der Bund sein schlechtes Gewissen erleichtert, weil die GKV-Beitragszahlenden zunehmend für versicherungsfremde Leistungen zur Kasse gebeten werden, reicht längst nicht mehr aus – ein Aufstocken ist aber im Haushalt für 2025 bisher nicht vorgesehen.
Keine GKV-Reform? Die Pharmastrategie könnte wackeln
Hinzu kommt: Die Umsetzung der Pharmastrategie ist gefährdet – und damit ein Leuchtturmprojekt des Bundeskanzlers. Denn wenn sich die Erstattung von Arzneimittelinnovationen am Sparzwang der GKV und nicht am medizinischen Nutzen für die Menschen orientiert, werden es neue Therapien hierzulande schwer haben, denn dann ist die Refinanzierung von Forschung und damit der Innovationskreislauf in Gefahr. Mit der Strategie setzt die Bundesregierung darauf, dass global tätige Pharmaunternehmen in Deutschland weiterhin ein festes Standbein haben und investieren; dort heißt es: „Arzneimittel sind unabdingbar für die Gesundheit der Menschen und wesentlicher Faktor des medizinischen Fortschritts. Die pharmazeutische Industrie ist ein Schlüsselsektor und eine Leitindustrie der deutschen Volkswirtschaft.“ Kommt die Pharmastrategie nicht, ist das für den Wirtschaftsstandort Deutschland, der sich gerade ein Stück weit neu erfinden muss, eine sehr schlechte Nachricht. Schließlich steht Pharma, so die politische Erkenntnis, „für Gesundheit, Wirtschaft und Wohlstand“.
Wenn die GKV nicht sicher und nachhaltig finanziert ist, hat das weitere Folgen:
- Die proklamierte Umkehr zu einem System, dass Gesundheit erhält, weil das besser ist als Krankheiten zu heilen, ist in Gefahr. Mehr Prävention soll künftig dafür sorgen, dass Krankheiten wie Diabetes, Herzkreislauf- und chronische Nierenerkrankungen oder Adipositas eingedämmt werden. Sie zu behandeln, kostet das System aberwitzige Milliardensummen. Dafür braucht es massive Investitionen in Gesundheitsprogramme – die erstmal Geld kosten bevor sie wirken. Mit einem am finanziellen Abgrund laborierendem Gesundheitssystem werden solche Programme nicht das Licht der Welt erblicken. Und das GKV-System wird ein Reparaturbetrieb bleiben, der im Grunde unbezahlbar ist.
- Das Vertrauen der Menschen in das Gesundheitssystem sinkt bereits – das zeigen Umfragen. Das wirkt sich unmittelbar auf das Vertrauen aus, das die Menschen in ihre politischen Entscheidungsträger haben. Was mangelndes Vertrauen in das Funktionieren dieses Landes für gesamtgesellschaftliche Folgen hat, kann man aus den jüngsten Wahlergebnissen herausdestillieren. Die demokratischen Parteien sollten ein starkes Interesse daran haben, dass Ruhe einkehrt in die Debatte um die „Finanzruine GKV“.
Das deutsche Gesundheitswesen ist nicht schlecht – noch. Aber es ist sehr ineffizient. Deshalb muss nicht nur die Finanzierung der GKV einmal sauber geklärt werden, sondern es müssen tiefgreifende Strukturreformen her. Ideen dazu gibt es wie Sand am Meer. Die Zeit für Reformen ist jetzt: Werden die Hausaufgaben in Richtung Zukunft nicht gemacht, wird es wirklich teuer. Die Klimakrise mit den gesundheitlichen Folgen wird den Stress auf das System weiter erhöhen – das ist bereits heute Realität. Auch die Gefahr neuer Pandemien steigt.
Es wird Zeit, dass sich was tut: Die Gesundheit als politisches Nischenthema ist ein absolutes No-Go.
Weiterführender Link:
Zukunft des Gesundheitswesens ressortübergreifend sichern. Thesenpapier des Bündnis Gesundheit
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